Cradle to Cradle im Bauwesen: Bauen ohne Abfall
2024-11-13T09:32:00+01:00Das Thema Nachhaltigkeit ist in der Bau- und Immobilienwirtschaft sehr präsent. Als einer der jüngeren Trends wird Cradle to Cradle im Bauwesen viel diskutiert und zum Teil bereits erfolgreich umgesetzt. Dahinter steckt das Prinzip eines geschlossenen Kreislaufs, in dem alle Ressourcen recycelt werden. Was bedeutet es konkret, welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus und welche Praxisbeispiele gibt es?
Was ist das Cradle to Cradle-Prinzip?
Ende der 1990er Jahre entwickelten der amerikanische Architekt William Mc Donough und der deutsche Chemiker Michael Braungart das Cradle to Cradle-Prinzip, kurz C2C. Der Name bedeutet so viel wie „Von der Wiege bis zur Wiege“ und spielt auf die Phrase „Von der Wiege bis zur Bahre" („From the cradle to the grave“) an. Mc Donough und Braungart wollten damit unterstreichen, dass es im C2C-Kreislauf keinen Anfang und kein Ende gibt. Das Prinzip sieht keinen Abfall und damit auch keine Entsorgung, zum Beispiel auf Müllhalden oder in Müllverbrennungsanlagen, vor. Stattdessen setzt Cradle to Cradle auf konsequentes Recycling und trägt damit dem Nachhaltigkeitsgedanken Rechnung. Neben der Textilindustrie, der Herstellung von Konsumgütern und im Dienstleistungssektor findet Cradle to Cradle auch im Bauwesen verstärkt Anwendung.
C2C Prinzip erklärt: die 5 Säulen
Cradle to Cradle basiert auf fünf Säulen. Sie bilden die Grundlage für eine Zertifizierung von Produkten und lassen sich auch auf Gebäude anwenden.
- Das Objekt muss nach Ende seiner Nutzungszeit ohne Rückstände in seine einzelnen Bestandteile zerlegbar sein.
- Schadstoffe und Gifte sind tabu.
- Die Herstellung sämtlicher Komponenten muss CO2-neutral erfolgen.
- Der natürliche Wasserhaushalt darf nicht beeinträchtigt werden.
- Die Berücksichtigung sozialer Aspekte ist Pflicht.
Cradle to Cradle im Bauwesen: Wie lässt sich das Prinzip anwenden?
Bezogen auf die Bau- und Immobilienwirtschaft spielen bei C2C die verwendeten Baustoffe eine zentrale Rolle. Alle in einem Wohn- oder Geschäftsgebäude verbauten Materialien müssen gesundheitlich unbedenklich, umweltfreundlich und sozialverträglich hergestellt sein. Die Verwendung von Verbundstoffen, wie zum Beispiel beschichtetem Holz, ist nicht vorgesehen. Wird das Haus eines Tages abgerissen oder entkernt, müssen die Komponenten rückstandslos demontierbar sein, um sie dem Recycling zuzuführen und daraus neue Baustoffe herzustellen. Diese müssen dem ursprünglichen Material gleichwertig sein, da ein „downcycling“ bei Cradle to Cradle im Bauwesen nicht angedacht ist. Das Interessante daran: C2C bezieht die Endlichkeit von Häusern und den Abriss bereits in die Planung mit ein.
Im Hinblick auf die energetische Ausstattung von Cradle to Cradle-Gebäuden sieht das Konzept ausschließlich die Nutzung erneuerbarer Energien wie Photovoltaik, Solarthermie oder Erdwärme vor. Im besten Fall produziert ein C2C-Haus mehr grüne Energie als es verbraucht. Ein gesundes Raumklima, Fassaden- oder Dachbegrünung sind weitere Beispiele für die Umsetzung des Cradle to Cradle-Prinzips.
Vorteile von Cradle to Cradle im Bauwesen
Ebenso wie das Green Building-Konzept bringt auch die Cradle to Cradle-Architektur eine Vielzahl an Vorteilen für Mensch und Umwelt mit sich:
- Ressourcen für die Herstellung von Baustoffen (z. B. Beton) werden geschont, gleichzeitig senkt der Recycling-Kreislauf die Kosten für Baustoffe.
- Bauschutt oder mit Schadstoffen belasteter Bodenaushub werden reduziert. Das entlastet die Deponien, da die Entsorgung entfällt.
- Die Verwendung schadstofffreier Materialien trägt zur Wohngesundheit bei
- C2C-Häuser mit Fassaden- oder Dachbegrünung bieten Pflanzen und Tieren einen Lebensraum und verbessern das – Umgebungsklima.
- Cradle to Cradle bietet Produzenten von Baustoffen die Möglichkeit, sich ihre benötigten Materialien in Form von Leasing-Modellen für die Zukunft zu sichern.
Herausforderungen des Cradle to Cradle-Prinzips
Aktuell stellt die Umsetzung des C2C-Prinzips Planer, Architekten und Bauherren noch vor vielfältige Herausforderungen.
Ein geschlossener Kreislauf ist in der erforderlichen Dimension (noch) nicht umsetzbar, ohne die wirtschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen grundlegend zu ändern. So müssten beispielsweise die Hersteller von Baustoffen dazu verpflichtet werden, ihre Produkte nach der Nutzung wieder zurückzunehmen und zu recyceln.
Weiterhin müssten neue Geschäftsmodelle geschaffen werden, die auf Leasing oder Sharing, statt auf einem möglichst hohen Absatz basieren. Was danach mit dem Produkt passiert, spielt heutzutage in der Regel keine Rolle.
Zurzeit stammt ein Großteil der für die Produktion von Baustoffen eingesetzten Energie aus fossilen Quellen. Da C2C jedoch ausschließlich erneuerbare Energien vorsieht, lässt sich das Konzept bislang nur in Einzelprojekten konsequent anwenden.
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Cradle to Cradle in der Praxis: Beispiele für die erfolgreiche Umsetzung
- Die Niederlande gelten als Vorreiter für Cradle to Cradle im Bauwesen. Ein Beispiel für die erfolgreiche Umsetzung ist das Rathaus in Venlo. Bereits bei der Planung stand der Nutzen für die Stadt, ihre Bewohner und die Umwelt im Fokus. Da sich das Gebäude direkt an einer Straße und an einer Bahnlinie befindet, entschieden sich die Architekten für eine Fassadenbegrünung, da diese die Umgebungsluft filtert. Zusätzlicher positiver Effekt: Das Grün bietet Schutz vor Hitze, Kälte und Lärm und trägt so zum Wohlbefinden der Mitarbeiter bei. Beim Innenausbau kam C2C-zertifiziertes Holz zum Einsatz. Zudem setzten die Planer auf recycelten Beton.
- Straubenhardt in Baden-Württemberg ist die erste C2C-Modellgemeinde in Deutschland. Begleitet durch den Cradle to Cradle-Mitbegründer Michael Braungart, setzt die Kommune das Konzept seit 2015 erfolgreich um – zum Beispiel beim Bau des Feuerwehrhauses nach C2C-Kriterien und bei der Erschließung und dem Bau neuer Gewerbebauvorhaben.
- Ein weiteres Beispiel für die gelungene Anwendung von Cradle to Cradle im Bauwesen findet sich in Essen. Dort wurde das Verwaltungsgebäude der RAG-Stiftung unter Nachhaltigkeitsaspekten geplant und realisiert. Unter anderem entschieden sich die Architekten für eine sortenrein trennbare Aluminium-Glas-Fassade. Diese verzichtet auf Klebstoffe. Stattdessen kommen ausschließlich Schrauben und Steckverbindungen zum Einsatz.
- Viel Aufmerksamkeit erhielt auch ein Bürogebäude am Düsseldorfer Hafen, das – passend zum Konzept – „The Cradle“ getauft wurde. Ein Blickfang ist die Holzfassade. Der natürliche Baustoff reguliert die Luftfeuchtigkeit und bindet in Kombination mit einer Dachbegrünung und einem speziellen Teppichboden Feinstaub. Sollte das Gebäude irgendwann abgerissen werden, kann die Holzfassade für den Bau von Möbeln genutzt werden.
- Die Umsetzung des Cradle to Cradle-Prinzips beim Bau von Wohnimmobilien zeigt der „Woodcube“ in Hamburg. Das fünfgeschossige Haus entstand 2013 im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA). Der Woodcube besteht aus unverleimtem Massivholz, ist frei von Schadstoffen und CO2-neutral.
- Im Segment des Einfamilienhausbaus gibt es bislang noch keine komplett C2C-zertifizierten Objekte. Allerdings gibt es einige Anbieter von Holzhäusern, die die Philosophie von Cradle to Cradle teilen und daher ebenfalls Nachhaltigkeit und Wohngesundheit in den Fokus stellen. Vielfach setzen die Hersteller auf Massivholz und verzichten auf Leim und andere Kleber. Einen C2C-zertifizierten Dämmstoff hat der Haushersteller „Baufritz“ bereits seit 2012 im Programm. „HOIZ“ besteht aus Hobelspänen, Soda und Molke, lässt sich rückstandsfrei in den biologischen Kreislauf zurückführen und ist ohne Einschränkungen wiederverwendbar.
Fazit: C2C - vorerst noch Zukunftsmusik
CO2-neutral, gesund und 100 Prozent recyclingfähig: Das Cradle to Cradle-Konzept hebt die Prinzipien des ökologischen, klimafreundlichen Bauens auf ein neues Level. Aufgrund der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist es für Planer und Architekten zurzeit noch relativ anspruchsvoll, diese Anforderungen in der Breite und mit einem Zertifikat umzusetzen. Gleichwohl wird Cradle to Cradle im Bauwesen künftig weiter an Popularität gewinnen und mittelfristig zu einem neuen Nachhaltigkeitsstandard werden.
Bilder: Adobe Stock